Was stellen die Mensch-Tier-Mischwesen aus der Steinzeit dar?
Naturwissenschaftliche Methoden können ihr Alter und ihre chemische Zusammensetzung bestimmen, aber sie sagen uns rein gar nichts über Sinn und Bedeutung dieser Bilder und Skulpturen. Hier helfen, wenn überhaupt, nur kulturwissenschaftliche Vergleiche, Deutungen und Schlüsse weiter.
Die alte Jagdzauber-Hypothese von Abbé Breuil & Co. überzeugt nicht, da sie gerade den Umstand der tierischen Bestandteile der Figuren nicht erklärt. Was für Jägerwesen sollen das sein, die da mit Speeren, Stricken, Netzen auf der Lauer liegen? Handelt es sich um Menschen, die Masken tragen? Masken aber sind bei der Jagd nur hinderlich, schränken z.B. das Sichtfeld ein. Die Abbildungen als realistische Wiedergabe von tatsächlichen Jagden zu verstehen, erscheint nicht sehr überzeugend. Dafür enthalten sie zu viele Einzelheiten, die sich durch eine solche Deutung nicht schlüssig und überzeugend erklären lassen.
«Entities that do not exist in the natural world»
Wissenschaftler tendieren zunehmend in eine andere Erklärungsrichtung.
Was, wenn es sich nicht um Masken und Verkleidungen bei der Jagd handelt, sondern tatsächlich um Darstellungen von menschlich-tierischen Mischwesen?
„In Europe, scholars have long been interested in the oldest known images of therianthropes in prehistoric art, because they are generally accepted to represent the earliest evidence for our ability to conceive of abstract entities that do not exist in the natural world,“ schreibt etwa Adam Brumm, Coautor der Studie zu den frühen Felsbildern auf Sulawesi. „Depictions of therianthropes are also seen as an indication of early spirituality or religious-like thinking.“
Als sichtbaren Ausdruck solch „religionsähnlichen Denkens” ziehen Forscher seit einiger Zeit vor allem schamanistische Rituale und Kostüme in Betracht. Und wie man von ethnografischen Studien bei früheren und heutigen Schamanen weiß, existieren in ihrer Welt Vorstellungen von Geistreisen, auf denen sich der Schamane in ein Tier verwandelt. Er (oder sie) meint dazu sogenannte Geisthelfer zur Seite zu haben, die ihm oder ihr zu den unter Trance eintretenden Visionen verhelfen.
Dieser Deutung zufolge stellten die in der Altsteinzeit gemalten Felsbilder mit Menschen(ähnlichen)wesen keine Jagdszenen dar, sondern wären das Ergebnis der Trancevisionen von Schamanen.
Professor Horst Kirchner, Gründungsdirektor des Instituts für Ur- und Frühgeschichte an der FU Berlin, deutete schon 1952 die berühmte Szene in Lascaux mit verwundetem Wisent, Vogelkopfmensch und Vogelfigur auf der Stange mit Hilfe schamanistischer Rituale bei den sibirischen Jakuten. Er las das Bild als Darstellung eines Heilungsrituals, bei dem ein Rind geopfert wird und der Schamane unter Assistenz eines Hilfsgeists (repräsentiert durch den Vogel auf der Stange wie bei den Jakuten) in Trance fällt und auf einer Geistreise das Opfertier an den richtigen Bestimmungsort führt, damit die Heilung eines Patienten wirksam erfolgen kann (H. Kirchner: Ein archäologischer Beitrag zur Urgeschichte des Schamanismus, in: Anthropos, 47, 1952).
«Kontakt suchen zu dem, was wir nicht mehr sind»
Die finnische Schriftstellerin und Anthropologin Ulla-Lena Lundberg bekennt sich in ihrem Buch Jägarens leende („Das Lächeln des Jägers”, 2010) ebenfalls zu einer schamanistischen Interpretation prähistorischer Felsmalereien. Entsprechend hält sie es für legitim und erhellend, diese ältesten Bilder der Menschheit auch mit Hilfe ethnografischer Beobachtungen bei heute noch schamanistische Praktiken betreibenden Jäger- und Sammlergesellschaften zu deuten.
Sie selbst hat sich mehrere Jahre mit den Felsmalereien der Buschmänner (San) im südlichen Afrika beschäftigt. Ihrer Meinung nach stellen deren Felsbilder Tranceerlebnisse dar. Den Schlüssel zu ihrem Verständnis der südafrikanischen Felsmalerei und eines schamanistischen Weltbilds fand sie in dem 1911 erst postum erschienenen Specimens of Bushmen Folklore von Wilhelm Bleek und Lucy Lloyd, die in den 1850er und 1860er Jahren eine große Sammlung von anthropologischen und ethnografischen Informationen und Materialien zu den San zusammengetragen haben.
„Bleeks Gewährsleute sprachen viel von der Zeit, als Tiere Menschen waren, einer mythischen Vorzeit, die ein wenig der Traumzeit der australischen Aborigenes ähnelt”, schreibt Lundberg. „Dorthin strebt man in Trance zurück, und dort vereinen sich Mensch und Tier wieder, sodass ein Mensch Löwengestalt annehmen kann. Als wir nur Menschen wurden, haben wir etwas verloren; darum sucht die Trance so beharrlich Kontakt mit dem, was wir nicht mehr sind, was aber unseren Blick auf uns selbst erweitert”.